Die Selbstoptimierungsfrage

über Pistenkilometer, junge Mäuse und qualvolle Intervalle – Teil 1

Gestern erhielten wir folgende WhatsApp-Nachricht: „41 Pistenkilometer, 6800 Höhenmeter.“ Dazu ein Daumen hoch. Dann ein Bild eines verschneiten Hanges, natürlich menschenleer und ein Sonnenuntergang.

Zunächst lege ich diese Nachricht beiseite. Ein wenig neidvoll vielleicht, denn unser Schiausflug dieses Wochenende ist der Grippewelle unterlegen.

Dann höre ich im Radio auf Ö1 über einen australischen Wissenschaftler, dem es gelungen ist, den Alterungsprozess von Mäusen rückgängig zu machen. Mäuse, die altersbedingt nicht mehr sehen konnten, haben nun ihr Augenlicht wieder. Mäuse, die nicht mehr fit genug zum Laufen waren, wirken nun wieder top trainiert.

Auch diese Nachricht verschwindet irgendwo in meinem Gehirn, vielleicht dort, wo ich Unbegreifliches ablege.

Später spreche ich mit einer Verwandten. Sie ist neuerdings eine begeisterte Anhängerin des Intervallfastens. Leider kann ich ihre Begeisterung nicht teilen. Sie behauptet, nun nur noch einmal am Tag Hunger zu haben. Es sei wahnsinnig angenehm, praktisch und nebenbei sehr gesund. Egal, wie sehr ich mich bemühe, ich kann das nicht ganz begreifen. Ich vermute, sie will bloß nicht laut sagen, dass sie sich vom Intervallfasten erhofft, länger jung und gesund zu bleiben.

Nun ist der Moment gekommen, an dem sich die Fülle der Nachrichten zu einer sogenannten kognitiven Dissonanz zusammentun. Die stellt sich dann bei mir ein, wenn Herz und Hirn nicht mehr zusammentun. Denn eigentlich bin ich den Menschen, die mir ihre Nachrichten zutrugen, wohlgesonnen. Und trotzdem schleicht sich ein ungutes Gefühl in meinem Herz und Bauch ein. Was macht mich so traurig? Warum fühle ich mich, dann später bei einem Waldspaziergang, etwas verzweifelt, ein wenig wie nicht von dieser Welt?

Ich erlaube mir, Erkenntnis in meine Gefühle zu bringen. Es beginnt mit einigen Forschungen in der Vergangenheit. Ich bin als Kind sehr gerne Schi gefahren. Es war im Winter eine fast tägliche Beschäftigung, da wir quasi neben den selbst gekürten Schihängen wohnten und die Schlepplifte auch nur einen Steinwurf entfernt waren. Es waren laute, wilde, freudvolle Nachmittage mit roten Backen und Riesenhunger. Habe ich jemals Höhenmeter gezählt? Habe ich jemals Pistenkilometer mitgeschrieben? Ich habe höchstens die Freunde und Freundinnen gezählt, die mit am Schihang waren, oder die Krapfen, die wir bei Einbruch der Dunkelheit vor dem Heimgehen gegessen haben. Zu Hause am Abend stellte sich regelmäßig das Glück ein.

Es ging also schlicht darum, ob es schön war oder nicht. Ob es mich glücklich machte oder nicht. Es hat mich glücklich gemacht, darum bin ich am nächsten möglichen Tag wieder auf die Schipiste. Ich frage mich: Habe ich mir diese einfache kindliche Kategorie bewahrt? Diese einfache Unterscheidung zwischen Glück und Unglück? Zwischen Erfahrungen, die das Herz weit machen und jenen, die den Bauchraum eng schnüren.

Heute scheint mir die Welt komplizierter. Werte ich mein Leben auf, wenn ich anderen über meine Leistungen erzählen kann? Oder freue ich mich mehr, wenn ich mit meinem Tun etwas in der Welt bewege? Gelten meine Erfahrungen als real und wertvoll, wenn ich nicht darüber in den sozialen Medien berichten kann? Begeistern sie mich auch, wenn ich kein Foto irgendwo ablegen kann? Bleiben von einer Bergtour die Höhenmeter oder das Glück im Bauch? Ich halte dieser inneren Prüfung stand.

Heute als Erwachsene erweitere ich meinen Anspruch. Nach wie vor frage ich mich, ob die Dinge, die ich tue, zu meinem Glück beitragen. Ich frage mich aber auch, ob meine Handlungen anderen dienen oder dazu beitragen, diese Welt ein klein wenig besser zu machen. Naturgemäß erschüttert es mich, wenn Menschen ihre inneren Maßstäbe der äußeren Beurteilung opfern. Selbstoptimierung ist das Wort der Zeit. Ich glaube, ich kann schon jetzt sagen: Nicht mit mir.

Mit Selbstoptimierung wird der Kampf zwischen Innen und Außen an die Spitze getrieben. Es reicht nicht, wenn es für uns selbst stimmig ist. Es soll Maßstäben genügen, die im Außen definiert wurden. Und dann soll es bitte auch noch viele Daumen hoch für meine Taten geben. Doch bitte wer sagt uns dann, wann genug Pistenkilometer gefahren sind? Schickt mir dann jemand eine Whats-App?

Liebe Leserinnen und Leser, zählt die Sonnenstrahlen, die euer Herz erreichen. Zählt die Küsse, die ihr bekommt. Zählt Dinge, für die ihr dankbar seid! Zählt meinetwegen auch manchmal die Tage, an denen ihr frustriert, müde, krank oder einsam seid. Zählt eure guten Ideen und die rosigen Wochen eures Lebens.

Genießt die Abfahrten über verschneite Hänge. Erinnert euch an gemütliche Stunden bei Tee und Germknödel. Speichert das wunderbar müde Gefühl eurer Muskeln nach einem Tag im Schnee! Aber bitte zählt keine Pistenkilometer! Außer ihr habt eine Liebe für Zahlen und Statistik.

Im nächsten Teil wenden wir uns Mäusen und ihren vermeintlichen Jungbrunnen zu….

Herzlichst Ihre, Mirijam Bräuer

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